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THE WIG

Welche Frisur ist eigentlich die klassischste? Welche persönliche Ausdrucksmöglichkeit erlaubt sie ihrer Trägerin oder ihrem Träger? Und wie viel Individualität lässt der millionenfach und über viele Jahrzehnte verwendete Schnitt überhaupt zu? Diesen Fragen spürten Thomas Mück und Thomas-Armin Mathes mit ihrem Kunstprojekt "The Wig" nach und begaben sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Sie wurden fündig in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts - beim Pagenkopf.

Die Geschichte dieses Haarschnitts reicht zurück bis ins alte Ägypten. Auf 3.000 Jahre alten Papyrusrollen lässt sich nachweisen, dass der kinn- bis schulterlange Haarschnitt seinerzeit gängige Haartracht beider Geschlechter im Land der Pyramiden war. Im Mittelalter waren die gerade geschnittenen Seitenpartien mit kurzem, eingerolltem Pony dagegen Männern vorbehalten: Pagen trugen sie am englischen Hof und wurden so zu Namensgebern des heutigen Pagenkopfs. In der Neuzeit ist außerdem die mittelalterliche "Prinz-Eisenherz-Frisur" zum geflügelten Wort geworden.

Endgültig weiblich wurde der Pagenkopf erst viel später - in den "Roaring Twenties", die die Rolle der Frau in der Gesellschaft für immer verändern sollten. Die "neue Frau" begann für ihre Rechte zu kämpfen. Sie befreite sich von Konventionen, wurde unabhängig, verdiente ihr eigenes Geld, trieb Sport, lockerte das Korsett und schnitt alte Zöpfe ab - auch im Wortsinn. Der bis zum Ohrläppchen reichende "Bubikopf" oder auch "Garcon"-Schnitt (abgeleitet vom französischen Wort garcon für "Junge") wurde zum Inbegriff eines neuen, emanzipierten Frauenbilds und zum politischen Statement, die Schauspielerin Louise Brooks (1906 bis 1985), einer der Stars des US-amerikanischen Stummfilms, zu einem der ersten weltweit beachteten Role-Models dieses neuen Stils.

Seitdem hat der Pagenkopf mehrere Revivals erlebt. Anfang der 60er Jahre begann der englische Friseur Vidal Sassoon mit neuen Schnitttechniken zu experimentieren. Sein Ziel: eine alltagstaugliche Frisur, bei der das Haar immer wieder natürlich in seine ursprüngliche Position zurückfallen und damit Lockenwickler, Haarspray und lästiges Toupieren überflüssig machen sollte. Aus dem Garcon-Schnitt entwickelte er den "Bob": kinnlang, geometrisch geschnitten, beweglich und pflegeleicht. Legendär ist Sassoons Ausruf "Shake it, baby!", wenn er mit seiner Arbeit fertig war. Berühmte Vidal-Kundinnen wie die Schauspielerin Nancy Kwan oder die Erfinderin des Minirocks, Mary Quant, wurden zu Trendsetterinnen und lösten weltweit einen Bob-Boom aus. Frauen wie Coco Chanel oder Anna Vintour folgten. Der Pagenkopf war endgültig in der Welt der Mode angekommen.

Bis heute hat er nichts von seiner Faszination verloren. Immer wieder wurde er verändert: mit schräg geschnittenem Pony, fransigen Seitenpartien oder asymmetrischen Konturen, die jeder Kopfform schmeicheln und auf jeden Haartyp anwendbar sind. Immer wenn ein Ende des Trends in Sicht scheint, zeigt sich eine neue Prominente mit einer neuen Variante, die den Klassiker neu interpretiert - vom "Spice Girl" Victoria Beckham über Audrey Tautou im Film "Die fabelhafte Welt der Amélie" bis hin zu Sängerin Rihanna.

Aber wie verändert ein solcher Klassiker im Range des zeitlosen "Kleinen Schwarzen", der der Pagenkopf zweifelsohne ist, die Selbst - und Außenwahrnehmung des Trägers? Was bleibt von einer Persönlichkeit, wenn Farbe und Schnitt der Haare immer identisch sind? Wie beurteilt der Betrachter einen solchen Charakter-Kopf? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, baten Thomas-Armin Mathes und Thomas Mück Menschen aus der Metropolregion Rhein-Neckar, sich für ein Fotokunst-Projekt eine schwarze Perücke aufzusetzen. Die passenden Mitstreiter wurden gesucht und gefunden. Die Mannheimer Designerin Regine Maier unterstütze die Verwandlungen durch passende Outfits. Die Stylistinnen Carmen Frenkel und Marina Kaszuba ersonnen Make-ups und Stylings, die den Typ der porträtierten Persönlichkeit unterstreichen sollten. Und Fotografin Annette Mück setzte die Dargestellten, fast allesamt Amateure vor der Kamera, mit viel Einfühlungsvermögen in Schwarz-Weiß vor dunklem Hintergrund in Szene.

Dass das Projekt eine ungeahnte Eigendynamik entwickelte, lag zum einen an der Intensität der Vorbereitung. Zum anderen aber auch an der großen Bereitschaft und Neugier der angefragten Frauen und Männer, sich dem Experiment zu stellen. 35 Personen sollten ursprünglich fotografiert werden, 80 sind es am Ende geworden, nachdem mit dem frischgebackenen Fußball-Weltmeister Hansi Flick auch das letzte Motiv im Kasten war. Alle 80 Bilder werden in einer Ausstellung im Kunstverein Mannheim präsentiert, die zu einem späteren Zeitpunkt auch im Mannheimer Kongresszentrum Rosengarten zu sehen ist. Im Verlag Edition Panorama und den beiden Verlegern Bernhard und Sebastian Wipfler sowie dem Grafikdesigner Hyko Ritsma wurden kompetente Partner gefunden, um den ausstellungsbegleitenden Bildband zu realisieren. Dank der großen Unterstützung kann außerdem der karitative Gedanke verwirklicht werden, den Thomas Mück und Thomas-Armin Mathes von Beginn an im Sinn hatten: die finanzielle Unterstützung der Mannheimer Einrichtung Freezone, die sich um Straßenkinder kümmert, aus den Erlösen.

Auch die Ausgangsfragen, die sich die Initiatoren zu Beginn ihres Projekts gestellt hatten, sind beantwortet. In den folgenden 80 Portraits zeigen sich 80 Individuen: ästhetisch, überraschend und ehrlich zugleich. Trotz des ikonenhaften Charakters der schwarzen Perücke, die so uniform plötzlich gar nicht mehr erscheint. 80 verschiedene Menschen - 80 verschiedene Persönlichkeiten.

Ute Maag

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Letzte Änderung: 26.09.2014

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